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Textiltechnikum Mönchengladbach

Zeit Maschine

An Demenz erkrankte Menschen brauchen Brücken in die Vergangenheit, um sich zu erinnern. Ein Industriemuseum in Mönchengladbach lässt sie zurückreisen in die Zeit, als sie noch jung waren – und schenkt ihnen damit kleine Momente des Glücks.

Textiltechnikum Mönchengladbach - Foto Matthias Groppe

Erna Behrens* ist müde. Immer wieder fallen ihr die Augen zu, während ihre Begleiterin sie im Rollstuhl an historischen Webstühlen und Spulmaschinen vorbeischiebt. Es riecht nach Schmierfett und altem Metall. Vor einer Nähmaschine bleibt der Rollstuhl stehen. „An so einer“, sagt Frau Behrens leise, „habe ich früher gearbeitet.“ Dass sie sich daran erinnert, ist alles andere als selbstverständlich. Denn Erna Behrens ist 99 Jahre alt und leidet an Demenz.

„Das funktioniert jedes Mal“, sagt Pia Hermann. Seit mehreren Jahren führt die Sozialpädagogin regelmäßig Gruppen von Demenzkranken durch das Textiltechnikum in Mönchengladbach. Das Ziel heißt: Erinnerungen wecken. „Es geht um die Dinge, die etwas in den Menschen auslösen: Gerüche, Geräusche, etwas zum Anfassen“, sagt Hermann. „Es ist immer wieder erstaunlich, was da für Ressourcen frei werden.“

Textiltechnikum Mönchengladbach - Foto Matthias Groppe
Textiltechnikum Mönchengladbach - Foto  Matthias Groppe

Rund 1,7 Millionen Menschen in Deutschland sind demenzkrank, hat der Medizinische Dienst der gesetzlichen Kassen ermittelt. Bis 2050 könnte die Zahl auf knapp drei Millionen steigen. Die meisten werden – wie bereits heute – in Pflegeheimen leben. Kontakt mit ihrer früheren Lebenswelt haben sie dort kaum. Ausflüge etwa ins Textiltechnikum, ein Industriemuseum in einem historischen Fabrikgebäude, sollen einigen von ihnen die Chance geben, zumindest ein wenig am öffentlichen Leben teilzunehmen. Zwei Jahre lang war das aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen nicht möglich, seit März finden die Führungen für Geimpfte und Genesene wieder statt.

An diesem Morgen sind sechs Bewohner eines Altenheims in Mönchengladbach in die alte Maschinenhalle gekommen. Einige von ihnen haben früher im Textilgewerbe gearbeitet, fast alle haben irgendeine Verbindung dazu. „Das hier ist eine Textilstadt“, sagt Hermann. Sie führt die Demenzkranken, Betreuer und Angehörigen zusammen mit Holger Hellwig durch die Ausstellung. Träger des Projekts ist die Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach.

Hellwig ist selbst Textiltechniker und außerdem Pädagoge. Die alten Maschinen kann er bedienen. „Der kennt sich aus“, sagt Herbert Netzer* anerkennend. Der 81-Jährige will vor allem die große Dampfmaschine sehen. So eine habe er als Kind gehabt, sagt er – nur viel kleiner. „Dampfmaschinen haben eine große Bedeutung für die damalige Generation“, erklärt Hermann. Herr Netzer erinnert sich nicht mehr daran, wie er hierher ins Museum gekommen ist, dafür aber an jedes Detail seines Weihnachtsgeschenks von vor 70 Jahren. Zu seinem großen Bedauern ist die Dampfmaschine heute nicht in Betrieb.

Das Prinzip des Projekts lasse sich beliebig übertragen, sagt Pia Hermann, die seit drei Jahrzehnten mit dementen Menschen arbeitet. „In früheren Generationen haben sich die Menschen viel stärker mit ihren Jobs identifiziert“, erläutert Hellwig. Zudem eignet sich das Textiltechnikum auch, um Verbindungen zu anderen Themen und Lebenswelten herzustellen: Märchen beispielsweise. Auch dort gibt es Spindeln und Webstühle – Dinge, zu denen alte Menschen wie Erna Behrens einen Bezug haben. Das Thema Mode funktioniere ebenfalls.

Textiltechnikum Mönchengladbach - Foto Matthias Groppe
Textiltechnikum Mönchengladbach - Foto Matthias Groppe

Inzwischen steht die Gruppe vor einem Webstuhl, Baujahr 1885. Bis in die frühen 1980er-Jahre war er noch in Gebrauch. „Der düdelt noch immer“, sagt Hellwig und setzt das hölzerne Ungetüm in Betrieb. Herbert Netzer freut sich nicht nur über das Klappern, sondern vor allem über Hellwigs Satz. „Gladbacher Platt“, schwärmt er. Auch Sprache gehört zur Erinnerungskultur. So lernen beispielsweise in Norddeutschland zahlreiche Altenpfleger Plattdeutsch, weil das Idiom bei vielen dementen Menschen fest verankert ist.

Nach einer guten Stunde geht der Besuch zu Ende. Frau Behrens hat ihre Augen geschlossen. Erinnerungen sind anstrengend für Demenzkranke. Herr Netzer hat zum Schluss noch eine Bitte: Sobald die Dampfmaschine wieder laufe, solle man ihm Bescheid geben. „Dann“, sagt Herr Netzer, „komme ich noch einmal wieder."

* Die Namen haben wir aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verändert.